Die alte Weide muss dem Schulneubau weichen

An manchen Tagen strahlt man nur wenig Zufriedenheit und Motivation aus, obwohl man sich nach Kräften bemüht. Wenn man eine Trauerweide ist und naturgemäß alle Zweige dazu neigen, kraftlos am eigenen Körper herabzubaumeln, ist es noch etwas schwerer mit der positiven Ausstrahlung. Doch so mancher Betrachter teilt die sanfte Melancholie, die die Weide auf unserem Schulhof in diesem Winter ausstrahlt. Die Weide ahnt es noch nicht, doch das Kollegium an der Freien Gesamtschule „Gustav Adolf“ weiß, dass nur noch wenige Tage mit dem seit Jahren vertrauten Baum verbleiben.

Die Deutsch- und Fremdsprachenlehrer sind durch die Auseinandersetzung mit Naturlyrik im Unterricht mit den Gefühlen und Ereignissen vertraut, welche uns Menschen im Schatten eines Baumes erfassen. Ruhe, Symbol des Lebens, Rückzug, möglicherweise ein erster Kuss. Bäume sind ein beliebtes Motiv der Autoren in allen Epochen gewesen. Auf der anderen Seite fragen sich die Geschichtslehrer, was der Baum in seinem Leben alles gesehen hat, obwohl die Kollegen der Biologie augenblicklich die Chance nutzen, den träumerischen Kollegen über die fehlenden Sinnesorgane aufzuklären und den wertvollen Beitrag der Bäume zum Ökosystem erläutern. Doch bleibt der vorherige Gedanke hängen: Wie viele Schülerinnen und Schüler hat die Weide bei ihren Schulalltag beobachtet: Unterrichtsdiskussionen, die durch geöffnete Fenster heranwehten. Erleichterte Schülerinnen und Schüler, die sich aufgeregt in die verdienten Ferien verabschiedeten. Der Untergang von Diktatur und der Aufbruch zum demokratischen Neuanfang. Gespräche im Schatten seiner Äste über die heimliche Zuneigung, Ärger über angebliches ungerechtes Verhalten oder den Verlauf von Prüfungen.

Nur einmal wurde es für längere Zeit ruhig auf dem Schulhof, als die alte staatliche Schule geschlossen wurde, da das Land Sachsen-Anhalt an der Zukunft dieses Schulstandortes zweifelte. Möglicherweise habe die Weide geschmunzelt, als das Schulleben zurückkehrte, dass seit zehn Jahren nun den Schulhof mit Leben erfülle, murmelt der Geschichtslehrer, während die Biologielehrerin achselzuckend im Schulhaus verschwindet, damit sie nicht über die Unmöglichkeit von Mimik referieren muss.

Fortschritt hat stets Schattenseiten. So ist es auch in diesem Fall, denn die Weide muss weichen, damit an ihrer Stelle ein Neubau für die Schule entstehen kann. Die verbliebenen vier kleinen Bäumchen werden ihrer großen Schwester sicherlich nachtrauern, doch es ist ein Trost, dass an der gleichen Stelle wieder Leben einziehen wird: Es wird in den neuen Fachräumen experimentiert werden. Diskussionen werden sich um die Deutung von Literatur drehen. Pausenbrote werden im neuen Innenhof des Neubaus gegessen, während gleichzeitig Gespräche die Stille vertreiben. Und vielleicht streckt in seinem Innenhof ein kleineres Bäumchen seine Zweige in den Himmel.

Autor: Tim Reinke